Seltene Erkrankungen betreffen ungefähr fünf bis sechs Prozent der Bevölkerung – das sind etwa 4 Millionen Menschen allein in Deutschland. Wie kommen Patient:innen mit einer seltenen Erkrankung zu einer Diagnose? Lernen Düsseldorfer Medizinstudierende in ihren Lehrveranstaltungen etwas über seltene Erkrankungen? Zum Anlass des diesjährigen Tages der Seltenen Erkrankungen haben wir über diese und weitere Fragen mit Prof. Dr. Dagmar Wieczorek, Sprecherin des Zentrums für Seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Düsseldorf (ZSED) und Direktorin des Instituts für Humangenetik, gesprochen.
Wie ist im Medizinstudium in Düsseldorf die Lehre zu seltenen Erkrankungen verortet?
Prof. Dr. Dagmar Wieczorek: Das ist vielschichtig. Wir bieten jedes Semester ein Wahlfach zum Thema Seltene Erkrankungen für Medizinstudierende an. Darüber hinaus gibt es eine Masterclass zu seltenen Erkrankungen, an der Studierende aller Universitäten in NRW teilnehmen können. Sie findet digital statt und das Programm wird gemeinsam von den verschiedenen Standorten des NRW ZSE ausgerichtet, einem Zusammenschluss aller Zentren für Seltene Erkrankungen in Nordrhein-Westfalen.
In der Vorlesung Humangenetik sind die seltenen Erkrankungen ebenfalls verortet. Es gibt einen Termin speziell zu dem Thema, an dem auch Vertreter:innen des gemeinnützigen Düsseldorfer Vereins „Elternnetzwerk gemischte Tüte e. V.“, in dem sich Eltern von Kindern mit seltenen Erkrankungen zusammenfinden, mitwirken. Wir beschäftigen uns in der Vorlesung auch an anderen Terminen mit seltenen Erkrankungen und sie werden auch in den einzelnen Blöcken des Modellstudiengangs behandelt. Auch im Praktikum werden seltene Erkrankungen besprochen.
Was ist der Inhalt der Humangenetik-Vorlesung zu seltenen Erkrankungen und welchen Beitrag leistet dabei das Elternnetzwerk gemischte Tüte e.V.?
Wir gehen darauf ein, was seltene Erkrankungen überhaupt sind und welche Möglichkeiten es hinsichtlich genetischer Diagnostik und der Therapie gibt. Exemplarisch stellen wir einzelne seltene Erkrankungen dar. Die Vertreter:innen der „gemischten Tüte“ sprechen über ihre Erfahrungen und vermitteln den Studierenden so einen Eindruck davon, was eine seltene Erkrankung für eine Familie bedeutet. Diese Elternperspektive finden wir sehr wichtig.
Besonders beeindruckt hat mich letztes Mal: Die Eltern haben den Studierenden gesagt, was sie von Seiten behandelnder Ärzt:innen auf keinen Fall hören wollen und was sie sehr gerne hören möchten. Für sie ist es so: Ihr Kind wird vorgestellt, um eine Diagnose zu finden, und alle seine Defizite werden aufgezählt. Wenn Ärzt:innen am Ende etwas Positives sagen, wie „Sie haben ein tolles Kind“ oder „Ihr Kind lächelt so freundlich“, dann gehen die Eltern aus so einer Beratung ganz anders heraus. Wir wollen den Studierenden vermitteln, wie man emphatisch mit den Eltern umgeht und was bei der Wortwahl wichtig ist. Gerade bei den seltenen Erkrankungen fühlen sich die Eltern oft extrem allein.
Wie arbeitet das Zentrum für Seltene Erkrankungen am Universitätsklinikum Düsseldorf, um seltene Erkrankungen zu identifizieren?
Da gibt es verschiedene Wege. Der erste führt über unser A-Zentrum. Die Patient:innen melden sich in Rücksprache mit ihrem Hausarzt oder ihrer Hausärztin bei uns und reichen die Befunde ein. Über die wissenschafltiche Koordinatorin des ZSED, Frau Dr. Schüler, erfolgt die orientierende Sichtung der Befunde. Dann prüfen in der Regel die studentischen Hilfskräfte die eingereichten Unterlagen: Sie sehen die Akten durch, sortieren diese und fassen ihre Erkenntnisse in einer Epikrise zusammen. Dr. Dr. Alena Welters, Ärztliche Lotsin des ZSED und Oberärztin der Klinik für Allgemeine Pädiatrie, Neonatologie und Kinderkardiologie, schaut sich im nächsten Schritt alles an und entscheidet, wie es weitergeht. Sie vermittelt die Patient:innen zum Beispiel direkt an eines der krankheitsspezifischen B-Zentren am UKD, wenn die Art der Erkrankung klar ist, oder an andere spezialisierte Zentren. Wenn wir nicht wissen, was die Patientin oder der Patient hat, bereitet Frau Dr. Dr. Welters den Fall für eine interdisziplinäre Fallkonferenz im UKD vor. Hier besprechen wir mit den B-Zentren diese Fälle. Das Ergebnis kann sein, dass wir eine Verdachtsdiagnose stellen oder weitere Untersuchungen vorschlagen.
Die anderen Wege führen über die B-Zentren: Wer eine Augenerkrankung hat, wendet sich beispielsweise direkt an die Augenklinik. Wir haben auch interdisziplinäre Sprechstunden, in denen zum Beispiel die Humangenetik und eine andere Disziplin gemeinsam vertreten sind. Dann wird mit uns gemeinsam entschieden, ob eine genetische Diagnostik vorgenommen wird.
Seltene Erkrankungen zu identifizieren ist Teamarbeit. Wir brauchen die verschiedenen Disziplinen und ihre Expertise, um die Patient:innen optimal behandeln zu können.
Was ist für Sie das Schönste an Ihrer Arbeit?
Das Schönste ist, wenn Eltern sagen, sie haben sich wohl und gut beraten gefühlt. Manchmal bekommen wir, wenn wir während einer Schwangerschaft beraten haben, eine Geburtskarte, auf der sich die Eltern bedanken und berichten, dass das Baby gesund ist.
Über wissenschaftliche Entdeckungen und Erfolge freue ich mich natürlich ebenfalls: Ein interessantes Paper, ein neu entdecktes Gen, spannende Kooperationen oder ein neues EU-Projekt, das sich mit einer seltenen Erkrankung beschäftigt.
Ein schöner Moment in der Lehre ist, wenn man in einer Vorlesung sieht, dass das, was man vermitteln möchte, bei den Studierenden ankommt und alle so aufmerksam zuhören, dass es mucksmäuschenstill ist.
Was ist die größte Herausforderung bei Ihrer Arbeit?
Dass es immer noch Patient:innen gibt, bei denen wir die Ursache der Erkrankung nicht finden können. Die Frage ist, warum ist das eigentlich so? Was sind das für genetische Veränderungen, die wir jetzt noch nicht finden können, und warum finden wir sie nicht? Welche Technologien brauchen wir noch, um den Rest aufklären zu können?
Was macht einen guten Arzt oder eine gute Ärztin aus?
Das Wichtigste ist aus meiner Perspektive in unserem Bereich Empathie. Man muss die Familie fragen, was sie möchte, und nicht das machen, was man selbst möchte oder spannend findet. Ich sage zu den Eltern: Das ist Ihr Kind und Sie entscheiden, was für Sie und Ihr Kind richtig ist. Wir liefern die sachlichen Informationen und die Familien treffen ihre ganz individuelle Entscheidung.
Veranstaltungshinweise:
Am Donnerstag, 29. Februar 2024, ab 17:30 Uhr findet im Haus der Universität in Düsseldorf das Symposium zum Rare Disease Day 2024 „Wenn das Blut verrückt spielt“ statt. Um eine vorherige Anmeldung wird gebeten; eine Anmeldung vor Ort ist ebenfalls möglich.
Am Samstag, 2. März 2024, lädt das ZSED gemeinsam mit dem gemeinnützigen Verein „Elternnetzwerk gemischte Tüte e.V.“ zu einem bunten Nachmittag auf Schloss Mickeln ein. Eingeladen sind Betroffene, Angehörige, Interessierte und Fachleute.